Schollheim - Bewohner und Ehemalige

Schwestern im Geiste...

Cato Bontjes van Beek – wie Sophie Scholl ein Vorbild für heute

Zunächst ein Dankeschön, dass ich am Schollheimtag 2023 hier im Studentenwohnheim Geschwister Scholl über Cato Bontjes van Beek sprechen darf. Cato ist nicht annähernd so bekannt wie Sophie Scholl. Bestenfalls im Nordwesten Deutschlands hat ihr Name einen vertrauten Klang. Dabei haben beide Frauen – Cato und Sophie - das gleiche Schicksal erlitten. Beide haben sich dem Widerstand gegen das verbrecherische NS-Regime angeschlossen: Cato Bontjes van Beek der „Roten Kapelle“ in Berlin, Sophie Scholl der „Weißen Rose“ in München.

Beide habe sich an der Herstellung und dem Verteilen von Flugblättern beteiligt, wurden angeklagt, zum Tode verurteilt und hingerichtet: Cato stand vor dem Reichskriegsgericht in Berlin und starb unter dem Fallbeil in Plötzensee. Sophie Scholl, ihr Bruder Hans und Christoph Probst standen vor dem Volksgerichtshof, das eigens nach München geeilt war, um die „Weiße Rose“ zu zerschlagen.

Die Parallelen zwischen beiden Frauen reichen noch weiter: Cato und Sophie waren künstlerisch begabt, konnten sehr gefühlvoll sein und besaßen zugleich einen klugen Verstand. Beide liebten die Natur fast überschwänglich.

„Schwestern im Geiste – Cato Bontjes van Beek – wie Sophie Scholl ein Vorbild für heute“: Darüber möchte ich sprechen.

Anlass ist der 80. Todestag von Cato; sie wurde am 5. August 1943 hingerichtet, nachdem sie fast zehn Monate in drei verschiedenen Berliner Gefängnissen verbracht hatte – die meiste Zeit mit einem bestätigten Todesurteil.

Cato wurde am 14. November 1920 in Bremen geboren, wuchs in Fischerhude auf, einem Bauern- und Malerdorf unweit von Bremen, und schloss sich im September 1941 in Berlin, wo sie in der Werkstatt ihres Vaters Jan Bontjes van Beek eine Lehre als Keramikerin absolvierte, der „Roten Kapelle“ an. Die „Rote Kapelle“ war eine der größten Widerstandsgruppen im Dritten Reich, die zugleich den höchsten Frauenanteil besaß. „Rote Kapelle“ – das war der Fahndungsbegriff, unter dem die Gestapo diese Gruppe im Visier hatte.

Schon als junges Mädchen entwickelte Cato ein erstaunliches Interesse an Sprache, Literatur, an fremden Kulturen und fernöstlicher Philosophie. Dieses Interesse war gepaart mit einer fast unbändigen Liebe zu Natur und Umwelt: Der Himmel spielte dabei eine große Rolle: Wolken, Vögel und Flugzeuge – alles, was sich in den Lüften bewegte, faszinierte sie, riss sie mit auf ihren Höhenflügen durch ihren selbstgeschaffenen Kosmos, über den sie sich mit ihrer Mutter, der Malerin Olga Bontjes van Beek, mit ihren Geschwistern Mietje und Tim sowie mit weiteren Verwandten und Freunden austauschte.

Zu ihrem 15. Geburtstag wollte ihr Vater Jan seiner Tochter eine Freude machen und kündigte ein Geldgeschenk an. Die Eltern hatten sich 1933, also zwei Jahre zuvor, getrennt. In dem Brief lud Jan sie zugleich in seine Berliner Keramik-Werkstatt ein. Jan Bontjes van Beek, dessen Vorfahren aus den Niederlanden stammten, überlebte NS-Diktatur und Krieg und brachte es in der Keramik-Kunst zu hohem Ansehen und großer Anerkennung.

Die 15jährige Cato freute sich über die Einladung nach Berlin so sehr, dass sie die Proben zu einem Theaterstück, das sie mit ihren Freundinnen in Fischerhude gerade einübte, sofort unterbrach, um ihrem Vater all das zu berichten, was ihr gerade berichtenswert erschien:

Zum Beispiel, dass sie mit ihrer Tante Amelie in der Töpferwerkstatt Keramik-Stücke glasieren wolle, dass sie beim Drehen der Töpfe und Vasen auch selbst Hand mit anlegte, um den Gefäßen eine schöne Form zu geben, dass ferner die Verwandten in Amsterdam, wo sie zwei Jahre zur Schule gegangen war und Niederländisch gelernt hatte, ihr ebenfalls zum Geburtstag gratuliert hätten. Und dann beschreibt sie ihrem Vater die November-Landschaft:

Jetzt ist es besonders schön. Die Tage sind nicht mehr so hell, die Wiesen überschwemmt und die Bäume voll Krähen. Wenn ich morgens aufstehe, mache ich gleich das Fenster auf und horch den Krähen, Elstern und wie sie nicht alle heißen. So gegen Abend mache ich dann große Spaziergänge in die Wiesen. Da finde ich es im Augenblick schöner als in der Heide.

In dem Brief bekommt Jan Bontjes van Beek eine Vorstellung vom Fernweh seine Tochter. Sie wolle in die Südsee nach Tahiti reisen, schreibt sie, nach Mexiko auch. Notfalls werde sie sich mit Griechenland zufriedengeben.

Als Nächstes stand nicht Tahiti auf ihrem Programm, sondern England. Den Kontakt zu einer englischen Gastfamilie, bei der sie 1937 für einige Monate als Au-pair-Mädchen arbeiten sollte, hatte ihre Tante Amelie Breling hergestellt. Die Verbindung stammte noch aus der Zeit, als die Bildhauerin in der internationalen Friedensbewegung aktiv gewesen war.

Catos Aufenthalt im britischen Königreich entwickelte sich zu einem einzigen Abenteuer. Die Hausarbeit geriet zwar nicht zur Nebensache. Aber ihre Gasteltern erkannten schnell, wie aufgeschlossen Cato auf Land und Leute zuging und wie schnell sie mit der englischen Sprache zurechtkam. In ihren Briefen schilderte sie die Landschaft in Südengland – Berge in allen vier Himmelsrichtungen und Gärten, in denen Veilchen, Primeln und Rosen aufblühten.

In England ging ihr Traum vom Fliegen erstmals in Erfüllung. Ihr Gastvater, Mr. Beesley, hatte die 17jährige in sein Herz geschlossen, erteilt ihr in seinem Auto Fahrstunden und verschaffte Cato sogar die Möglichkeit, in einem Zwei-Sitzer-Segelflugzeug mitzufliegen:

Zum ersten Mal in der Luft – Junge, Junge, das war schön. Ich sagte dem Piloten, er solle mit mir ein Looping schießen. Erst sagte er nichts. Wie ich dann in der Kiste saß und er mich anschnallte, fing ich nochmal an, und er sagte ja. Er tat es auch. Das war das Schönste am ganzen Flug. Ich saß vorn im Flugzeug und der Pilot hinten. Es kam ein großer Windstoß, ein Druck, mein Kopf beugte sich, und wie ich ihn aufzog, sah ich die Erde über mir…

Neben den vielen Briefen, die Cato an Verwandte und Freunde schickte, führte sie in England ein kleines Merkbuch, in dem sie Tagesereignisse in Kurzform festhielt. Ab Sommer 1937 taucht darin öfter der Name „John“ auf. John Hall war gemeint, Student der Agrarwissenschaften. Er gehörte zum Freundeskreis der beiden Töchter ihrer Gasteltern. John interessierte sich für den Buddhismus und die fernöstliche Philosophie. Dafür war Cato eine ideale Gesprächspartnerin, wie ihre Schwester Mietje rückblickend schildert:

Cato war sehr offen für diese Strömungen und beschäftigte sich vor allem mit dem Buddhismus und später auch mit dem Taoismus. Sie war fasziniert von der deutschen China-Forschung. Mit John tauschte sie Gedanken über diese religionsphilosophischen Themen aus. So entstand allmählich ein Band zwischen den beiden.

Auch nach ihrer Rückkehr aus England versuchten beide, ihre Freundschaft aufrecht zu halten. Ein Jahr lang wechselten sie Briefe, bis John sich aufmachte, Cato in Fischerhude zu besuchen. Beide waren entschlossen, sich in nicht allzu ferner Zukunft eine gemeinsame Existenz aufzubauen, sobald John sein Studium abgeschlossen hatte.

Auch Cato versuchte, sich darüber klarzuwerden, welchen Beruf sie eigentlich ergreifen wollte. Es fiel ihr schwer, sich zu entscheiden: Schauspielerin, Globetrotterin oder doch Keramikerin? In einem Brief, den sie im Februar 1938 an ihre Mutter Olga richtete, schien ihr Entschluss festzustehen:

Ich will auf die Bühne. (…) weißt du, Mama, das ist es, was ich nie recht wusste, was für einen Beruf ich für mich wählen soll, denn ein künstlerischer muss es sein. Zur Malerin geht es nicht. Tänzerin auch nicht. Keramik habe ich nicht so große Lust. Du weißt, es war schon immer eine große Lust für mich, andere zu imitieren. Vielleicht sogar ein Fehler. Aber ich glaube bestimmt, dass ich in der Schauspielkunst finde, was ich suche.

Es wurde dann doch die Keramik mit einer Lehre in der Werkstatt ihres Vaters in Berlin. Das war das Naheliegende, mit dem Cato ja schon begonnen hatte, wobei sie sich für die Zukunft noch andere Wege offenhielt, zum Beispiel Pilotin zu werden. In Berlin schloss sie sich einer NS-Segelfluggruppe an. Denn der Traum vom Fliegen übte nach wie vor eine große Faszination auf sie aus. Nach einem mehrmonatigen Grundkurs auf einem Flugplatz in Trebbin südlich von Berlin erwarb Cato einen Pilotenschein.

Der Ausbruch des Zweiten Weltkrieges mit dem Überfall auf Polen am 1. September 1939 zerstörte vieles. Ein Wiedersehen mit ihrem Verlobten John Hall in Südengland schien aussichtslos, obwohl Cato sich mehrfach um einen Pass zur Ausreise nach England bemühte, vergeblich. Den brutalen Angriff der Wehrmacht auf das Nachbarland Polen empfand sie als eine unheilvolle Zäsur, wie sie ihrer Tante Louise Modersohn, der Frau des Malers Otto Modersohn, schrieb:

Seit Wochen wütet jetzt schon der Krieg. Nie wollten die Menschen sich wieder bekämpfen, so schwor man 1918. Alle Feinde lagen sich in den Armen, und unter Tränen gelobten sie es sich. 1933 wusste man, dass ein neuer Krieg kommen würde. Er ist nun da. Alle guten Kräfte und Instinkte werden wieder verloren gehen. Alle bösen Kräfte und Instinkte werden wieder aufkommen.

Im März 1940 musste Cato in Berlin ihre Ausbildung als Keramikerin unterbrechen, um im Lager Blaustein im ostpreußischen Kreis Rastenburg den Reichsarbeitsdienst zu absolvieren. In Rastenburg waren die Tage mit Feldarbeit, Appellen und Reinigungsdienst ausgefüllt.

Im RAD-Lager lernte Cato Siegrid Arnold kennen, eine angehende Pädagogin, die ich mehr als ein halbes Jahrhundert später in Berlin getroffen habe. Sigrid Wachsmuth, wie sie inzwischen hieß, war bereits über 90 Jahre alt. An Cato konnte sich die alte Dame noch gut erinnern. Die beiden hatten einige Tage in der Krankenbaracke des Lagers verbracht. Zitat Sigrid Wachsmuth:

Mir wurde zum ersten Mal klar, dass Cato ein unerhört nachdenklicher Mensch war. Nicht nur im Politischen. Da hielten wir uns zurück. Wie leicht konnte ein Wort durch die dünnen Wände dringen. Gemeinsam lasen wir Nietzsches: „Die Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik“. Was wir da diskutiert haben, weiß ich nicht mehr. Aber ich weiß noch, dass das für uns beide glückliche Stunden waren. Man war dieser Wüstenei von Nazi-Ertüchtigung und Appellen entzogen. Als wir die Heilstube – so nannten wir das Krankenzimmer – längst verlassen hatten, lasen wir Kant und Faust II.

Eines späten Abends sah Sigrid Arnold zufällig, wie Cato an der Ecke einer Baracke stand und einen bestimmten Stern anschaute. Zitat:

Als ich sie schließlich darauf ansprach, erzählte sie zögernd, von England aus gucke auch jemand um dieselbe Zeit auf diesen Stern. Sie machte eine leicht ironische Bemerkung, als wolle sie vom Thema ablenken. Es war diese Art, die ich an ihr mochte.

Gemeint war John Hall, ihr Verlobter in England, den sie nie wieder gesehen hat. – Von Blaustein aus, dem Arbeitsdienstlager, setzte Cato ihren Briefwechsel mit ihren Cousins Christian und Ulrich Modersohn fort, den beiden Söhnen ihrer Tante Louise Modersohn. Mit beiden war sie in Fischerhude aufgewachsen. Vor allem mit Ulrich, der dem Nationalsozialismus positiv gegenüberstand, tauschte sie sich aus:

Lieber Ulrich! Manchmal könnte ich an allem verzweifeln und wünschte, ich hätte vor vielen Jahrtausenden gelebt. Ich weiß, dass Du diesen Standpunkt von mir verachtest und mich gleich auf die Größe der Zeit hinweisen würdest. Du kannst mich aber doch sicher verstehen, wenn ich manchmal verzweifeln möchte. Vieles stürzt in mir zusammen und verursacht Schmerzen.

Je öfter Cato über den Krieg und die Verhältnisse in Deutschland nachdachte, je tiefer sie in die Literatur eindrang, desto brennender drängten sich ihr Fragen nach dem Sinn des Ganzen auf. – Zurück in Berlin bekam Catos Welt einen Fixpunkt, den sie vielleicht unbewusst angesteuert hatte: Die Beteiligung am Widerstand gegen das verbrecherische Nazi-Regime. Das war die logische Konsequenz ihres Nachdenkens: Nicht nur reden, sondern selbst etwas tun!

An einem Sonntagvormittag im Sommer 1941 stellte Jan Bontjes van Beek in seiner Wohnung am Kaiserdamm in Berlin Libertas Schulze-Boysen seine beiden Töchter Cato und Mietje vor. Libertas war die Frau des Luftwaffenoffiziers Harro Schulze-Boysens – neben dem Wirtschaftswissenschaftler Arvid Harnack der Kopf der Widerstandsgruppe „Rote Kapelle“. Die Gruppe umfasste über 130 Anhänger, darunter, wie erwähnt, viele Frauen. In ihren Briefen konnte Cato über ihre neue Mission nichts mitteilen. Aber ihre Schwester Mietje, die sich in Berlin zur Grafikerin ausbilden ließ, bekam eine Ahnung:

Es dauerte nicht lange, da kam sie zu mir und sagte: „Das ist eine tolle Sache. Ich darf nicht darüber sprechen. Aber nur so viel: Ich bin aufgefordert worden, dort mitzumachen und ich habe geantwortet: Ja, ich mach mit!“ Da hatte sie schon die ersten Aufträge.

Englische Texte übersetzen, Flugblätter entwerfen, vom NS-Regime Verfolgte vorübergehend an einem sichern Ort unterbringen – Cato Bontjes van Beek war rastlos und tat sich mit jemandem zusammen, der sich im Untergrundkampf auskannte, mit dem Lyriker und Wehrmachtsangehörigen Heinz Strelow, den sie aus Fischerhude flüchtig kannte. Heinz Strelow war als junger Mann Mitglied der KPD und zeitweise inhaftiert gewesen.

Die wahrscheinlich letzte Zeitzeugin aus dem Umfeld der „Roten Kapelle“ war die 2012 verstorbene Malerin Katja Meirowsky. Sie hat Cato persönlich gekannt und mir 2011, also ein Jahr vor ihrem Tod, über die Freundschaft zu ihr berichtet. Die erste Begegnung der beiden Frauen war nicht frei von Komik. Katja Casella, so lautete ihr Mädchenname, hatte am 20. April 1942 zusammen mit NS-Gegnern eine riesige Nazi-Fahne vom Mast gerissen, das Hakenkreuz herausgetrennt und sich aus dem restlichen knallroten Stoff ein Kleid genäht. Es war das gleiche Rot, unter dem auch die KPD marschierte. In diesem Kleid erschien Katja Casella im Berliner Institut für Bildende Künste und fühlte sich von einer jungen Frau beobachtet:

Eines Tages kam sie auf mich zu und fragte: „Sind Sie Fräulein Casella?! „Ja, worum geht es?“ Und sie erwiderte: „Ich habe eine Keramik-Werkstatt. Die Männer sind fast alle eingezogen. Ich suche neue Leute. Sie sind mir sehr sympathisch.“ Ich musste ablehnen. Dann zögerte sie einen Moment, zeigte auf mein rotes Kleid und sagte: „Wissen Sie, … Ihr Kleid … Als Sie die Halle betraten, dachte ich: Es kommt die Revolution persönlich.“ Wir mussten beide lachen und setzten uns auf eine der Steinbänke im Vestibül. Wir verstanden uns auf Anhieb.

In Abstimmung mit Cato verstecke die Kunststudentin Katja Casella vom Regime verfolgte politische Häftlinge in ihrem Atelier und lernte durch sie Harro Schulze-Boysen, den Kopf der Widerstandsgruppe, kennen. Noch Jahrzehnte später erinnerte sich die Malerin an Einzelheiten dieser ungewöhnlichen Begegnung, etwa dass ein Grammophon Vivaldi spielte, dass die Musik verstummte, als Schulze-Boysen den Raum betrat. Der Luftwaffenoffizier trug Uniform. Katja war geschockt, das hatte sie nicht erwartet. Zitat:

Dann zog Schulze-Boysen mich vom Sofa und nahm mich in die Arme. Und sofort kam mir eine Wärme von diesem Mann entgegen, den ich nicht kannte und über den mir niemand etwas mitgeteilt hatte. Und dann sagte er sinngemäß: Wir wollen, dass diese Barbarei ein Ende hat. Es passiert so viel Unheil. Wir versuchen, gegen diese Barbaren etwas zu unternehmen. Und dann ging er wieder. Alle saßen stumm da. Und Cato sagte: „Macht doch die Musik wieder an!“

Dass die Widerstandsgruppe „Rote Kapelle“ in die Fänge der Gestapo geriet und fast die Hälfte ihrer Anhänger ermordet wurden – Cato und ihr Freund Heinz Strelow, die Ehepaare Schulze-Boysen und Harnack sowie viele andere – das lag an einem Funkspruch des sowjetischen Geheimdienstes, der von der deutschen Abwehr abgefangen und entschlüsselt worden war. Darin waren die Klar-Namen führender Köpfe der Berliner Gruppe enthalten, sogar ihre Adressen – ein kapitaler, durch nichts entschuldbarer Fehler.

Jan Bontjes van Beek und seine Tochter Cato wurden am 20. September 1942 verhaftet. Der Vater kam noch vor Weihnachten wieder frei. Cato und Heinz Strelow wurden im Februar 1943 in einem Schauprozess vom Reichskriegsgericht zum Tode verurteilt.

Die langen Monate der Haft verbrachte Cato Bontjes van Beek in drei verschiedenen Berliner Gefängnissen. Dass ihre Welt in dieser Zeit nicht einstürzte, lag daran, dass sie sich ein stabiles geistiges Fundament geschaffen hatte, das ihr erlaubte, aufrecht und ungebrochen durch diese schwere Zeit zu gehen. - Zunächst hatte sie im Gefängnis am Alexanderplatz in Berlin keine Leseerlaubnis bekommen. Ihrer Mutter Olga schrieb sie:

Ich habe meine Gedanken ganz umgestellt, sodass ich die Zelle als nicht zu drückend empfinde. (…) Ich gehe meistens auf und ab und bin froh, dass ich 16 lange Gedichte auswendig weiß, die ich jeden Tag einmal spreche. – Vielleicht versucht Ihr von Euch aus, diese (Lese-) Erlaubnis zu bekommen. Schickt mir dann die Bücher über Philosophie, auch Goethe (Goethe habe ich mir ja immer aufgespart auf eine Zeit, wo ich Zeit und Muße habe) – die Zeit ist jetzt da.

Catos unbeugsame Haltung, die in ihren vielen Briefen und Kassibern aus dem Gefängnis zum Ausdruck kommt – ihr geistiger Widerstand gegen das Nazi-Regime – diese Haltung beeindruckte Mithäftlinge, Gefängnisaufseher und Angehörige.

Wenige Wochen vor ihrer Hinrichtung, als sie die Hoffnung auf eine Umwandlung ihres Todesurteils in eine Zuchthausstrafe aufgegeben hatte, gab sie einem Mithäftling, mit dem sie sich austauschen konnte und dessen Freilassung bevorstand, die folgenden Zeilen mit auf den Weg:

Lieber Helmut, es ist schon ganz dunkel draußen und ich schreibe bei Kerzenlicht. Ich kann Dir keinen traurigen und keinen fröhlichen Brief schreiben. Alles hat ein mildes Gesicht für mich und ich wünsche allen, denen es auch so ergehen mag wie mir, dass sie genau so ruhig sind. Ich will nicht klagen, dass nun alles aus sein soll. Aber sehr leicht ist es nicht – suche Dich damit auszusöhnen. Ich sterbe nicht als Kämpferin, aber vielleicht hat mein Tod einen Sinn.

Bevor ich zum Schluss komme, gestatten Sie mir einige Sätze zu unserer politischen Gegenwart. Unsere parlamentarische Demokratie, unsere freiheitliche Ordnung - dieses System steht nach meiner Überzeugung vor seiner größten Herausforderung seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Als politischer Journalist habe ich die Nachkriegsentwicklung in der Bundesrepublik einschließlich der zurückliegenden drei Jahrzehnte deutscher Einheit zumeist intensiv wahrgenommen. Ich kann mich nicht erinnern, dass die Quersumme ungelöster Probleme zuvor jemals ein derart erschreckendes Ausmaß angenommen wie heute. Um nur wenige Punkte zu nennen:

Die Bildungsmisere. Die völlig unzureichende Integration von Migranten. Horrende Defizite im Wohnungsbau. Die wachsende Ungleichheit in der Gesellschaft. Die überbordende Bürokratie – mit fast jedem neuen Gesetz, das auf dem Kompromiss-Wege entsteht, wächst das Bürokratie-Monster. Und nicht zu vergessen - die Klimakrise: Das Ausplündern, das Zerstören der wichtigen Lebensgrundlagen dauert unvermindert an.

Das Vertrauen der Menschen in die Fähigkeit der politischen Klasse zur Problemlösung schwindet. Während der Einfluss der großen gesellschaftlichen Gruppen - Parteien, Kirchen, Gewerkschaften - zurückgeht, erodiert der Zusammenhalt in der Bevölkerung. Die Mitte der Gesellschaft bröckelt, was demokratische Grundüberzeugungen angeht.

Und die vielleicht größte Gefahr der Aushöhlung und Unterwanderung unserer Demokratie ist mit dieser Aufzählung noch gar nicht benannt: Datenklau, Algorithmen und Trolle im Internet: Trump, Brexit – die Steuerung antidemokratischer Prozesse hat unmittelbar mit dem Wildwuchs im Kosmos der Daten zu tun.

Die globale Macht der sozialen Netzwerke ist weiterhin ungebremst. Sie wird weder demokratisch kontrolliert und wirksam eingedämmt. Die parlamentarische Demokratie gerät zur Farce, wenn Trolle und Algorithmen den Ausgang von Wahlen bestimmen.

Abschließend komme ich noch einmal zurück auf den Widerstand von Cato Bontjes van Beek, von Sophie und Hans Scholl, von Christoph Probst, Willy Graf, Alexander Schmorell, Kurt Huber und all den anderen, die im Widerstand ihr Leben geopfert haben. Ihr Vermächtnis – so sehe ich es – verpflichtet uns, alles Erdenkliche für den Erhalt der Freiheit und Demokratie, für die Wahrung unserer Lebensgrundlagen und den Frieden zu tun.

Schwestern im Geiste - die vielen Briefe, Kassiber und Aufzeichnungen von Cato Bontjes van Beek gehören – wie die Tagebücher und Briefe von Sophie Scholl - zu den wichtigsten Zeugnissen zweier politischer Gefangenen im Dritten Reich. Sie sind für uns Botschaften der Hoffnung und Ermutigung.

Wie Sophie ist auch Cato ein zeitloses Vorbild für Mut, Unbeugsamkeit und Entschlossenheit, wenn es darum geht, der Freiheit und der Mitmenschlichkeit Gewicht und Stimme zu geben.

Hermann Vinke

Details | Hermann Vinke beim Vortrag - Schollheimtag 2023Im Mittelpunkt des Abends der Vortrag von Herrn Hermann Vinke

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Vortrag von Hermann Vinke zum Schollheimtag 2023

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