Schollheim - Bewohner und Ehemalige

Vortrag zum 100ten Geburtstag von Sophie Scholl

Hermann Vinke - Vortrag zum 100ten Geburtstag

Details | Hermann Vinkle beim VortragHermann Vinke

Das kurze Leben der Sophie Scholl –
Gedanken zur Erinnerungskultur in Deutschland


Vortrag:

Gedenkveranstaltung der Weiße Rose Stiftung und des Studentenwohnheims Geschwister Scholl e. V. aus Anlass des 100. Geburtstages von Sophie Scholl am 9. Februar 2021

München, 25. Oktober 2021

Vortrag Vinke im Schollheim

Der 100. Geburtstag von Sophie Scholl ist der Anlass unseres heutigen Treffens. Ich freue mich sehr, dass ich heute zu Ihnen sprechen darf über eine Widerstandskämpferin, die mir – darf man das so emotional ausdrücken? – ja doch im Laufe der Jahrzehnte ans Herz gewachsen ist. Die Lebensbeschreibung über sie ist mein wichtigstes Buch, vielleicht neben der Biografie über den deutschen Offizier Wilm Hosenfeld, der im besetzten Warschau den Pianisten Wladyslaw Szpilman gerettet hat. Die Beschäftigung mit dem Widerstand, auch mit dem „Rettungswiderstand“, ist neben meinem Beruf als Journalist, Reporter und Korrespondent zu einem Lebensthema geworden.

Und vorab will ich Ihnen gern verraten, was für mich das eigentliche „Honorar“ bei dieser Aufgabe war und ist: Es ist das persönliche Kennenlernen von Menschen, die durch diese NS-Zeit hindurchgegangen sind, die Zeugnis ablegen können, die ihre Erfahrungen verarbeitet haben.

Auch wenn manche Historiker Zeitzeugen nicht so ganz über den Weg trauen – für mich kommt es darauf an, ihnen zuzuhören, das Gesagte in den zeithistorischen Kontext einzuordnen und dann das Geschehene festzuhalten.

In diesem Sinne möchte ich über das Buch „Das kurze Leben der Sophie Scholl“ sprechen, seine Entstehung in der zweiten Hälfte der 1970er-Jahre. Damals war ich Redakteur, Moderator und Reporter beim Norddeutschen Rundfunk in Hamburg.

Vor der Sophie-Scholl-Biografie hatte ich zwei Bücher geschrieben, Jugendbücher – eins über Carl von Ossietzky, den großen Publizisten der 1920er-Jahre, Leiter der Zeitschrift „Die Weltbühne“, KZ-Häftling in Esterwegen im Emsland, 1936 rückwirkend für 1935 mit dem Friedensnobelpreis für seine Standhaftigkeit und seinen Mut ausgezeichnet.

Und eine Jugendbiografie über Gustav Heinemann, den Bundespräsidenten, der im Dritten Reich in der Bekennenden Kirche den Nazis widerstanden hatte. Und dann rief mich eines Tages Elisabeth Raabe an, damals Lektorin im Ravensburger Buchverlag, später Verlegerin des Arche Verlages, und überraschte mich mit der Frage, ob ich etwas über Sophie Scholl schreiben möchte.

Ihre Idee war, für eine neue Reihe über „Mädchen & Frauen“ Sophie gewissermaßen aus dem Verbund der Geschwister Scholl zu lösen und sie zum Thema einer eigenen Lebensbeschreibung zu machen.

Zunächst war ich unsicher, ob das Schicksal von Sophie Scholl eine eigene Biografie überhaupt rechtfertigen würde. Denn damals stand sie eindeutig im Schatten ihres großen Bruders Hans Scholl.

Doch schon bald begriff ich, nachdem ich einige ihrer Briefe und Tagebuch-Aufzeichnungen gelesen hatte, was für ein ungewöhnlicher Mensch sie war; sie konnte malen und zeichnen, war musikalisch und sprachlich begabt, mit einem innigen Verhältnis zur Natur, ferner ausgestattet mit einem klaren Verstand, dem als Gegenpol die Fähigkeit zur Empathie – wie wir heute sagen würden – gegenüber stand: also Mitgefühl zu empfinden, um daraus Maßstäbe für das eigene Handeln abzuleiten. Über diesen Prozess der Selbstfindung schreibt sie an einer Stelle:

Wir haben alle Maßstäbe in uns selbst, nur werden sie zu wenig gesucht. Vielleicht auch, weil es die härtesten Maßstäbe sind.
Die Lektüre der Briefe und Tagebuch-Aufzeichnungen von Sophie Scholl ging einher mit einer Reihe von längeren Interviews und Gesprächen mit Inge Aicher-Scholl, die ich auf meinem Kassettenrekorder aufzeichnete. Die Treffen – gelegentlich war Elisabeth Raabe, die Lektorin, dabei – diese Treffen in Rotis bei Leutkirch in Baden-Württemberg fanden zumeist an Wochenenden statt und gingen oft bis in den späten Abend hinein.

Manchmal kam Otl Aicher nach getaner Arbeit in seinem Atelier dazu, hörte einige Minuten zu und widersprach dann gelegentlich seiner Frau, wenn Inge etwas erzählt hatte, das in seiner Erinnerung anders gespeichert war.

Die Annäherung an Sophie Scholl und die Weiße Rose war allerdings mit Hindernissen verbunden. Mit Inge Aicher-Scholl war verabredet, dass unsere Gespräche im Verlag abgeschrieben wurden. Als sie die Abschriften las, reagierte sie erschrocken. Auf geduldiges Befragen hin hatte Inge Scholl ein neues Bild ihrer Geschwister gezeichnet, hatte junge Menschen beschrieben, die ihren Weg unter den Bedingungen der Diktatur suchten, Menschen in der Entwicklung – mit Widersprüchen, Idealen und Unsicherheiten. Als sie das las, distanzierte Inge Scholl sich vom Buchprojekt, lehnte zunächst eine weitere Mitarbeit ab.

Es bedurfte der Intervention und Überredungskunst der Lektorin Elisabeth Raabe, um Inge zu bewegen, doch weiter mitzumachen. Wir vereinbarten, dass sie das fertige Manuskript zu Gesicht bekommen sollte, bevor es in Druck ging. Das habe ich übrigens bei allen Zeitzeugen, also Angehörigen von Widerstandskämpfern und Überlebenden des Holocaust so gehalten, nachdem ich mit ihnen gesprochen hatte: Sie konnten alles lesen, ihre Zitate und das Umfeld schwarz auf weiß zur Kenntnis nehmen, bevor das Buch herauskam. Das hat sich bewährt, auch wenn es Geduld und Zeit kostete – wie im Fall von Inge Aicher-Scholl.

Als sie den kompletten Text gelesen hatte, rief sie mich an und erklärte, das Buch könne nicht erscheinen. Das sei nicht ihre Schwester Sophie, die ich da beschrieben hätte. Religion und Christentum seien für den Widerstand entscheidend und ausschlaggebend gewesen.

Ich wusste, dass zuvor andere Buch- und auch Film-Projekte am Einspruch von Inge Scholl gescheitert waren. Im Gegensatz zu ihr war ich der Auffassung, dass das Christentum, vor allem die Rückbesinnung auf das frühe Christentum zwar bedeutsam, aber keineswegs ausschlaggebend und nicht wirklich entscheidend für den Widerstand war.

Die Geschwister Scholl wie die übrigen Akteure der Weißen Rose, also Hans Scholl, Alexander Schmorell, Christoph Probst und Willy Graf, ließen sich gewiss von ihrem ethischen und moralischen Kompass, vor allem aber von ihrem Verstand leiten. Nach meiner Überzeugung galt das ganz besonders für Sophie Scholl, die ihrem Verstand gefolgt war, als sie sich nach und nach vom NS-Regime löste.

Eine Einigung zwischen Inge Aicher-Scholl und mir in der Frage nach der Rolle und der Bedeutung des Christentums für den Widerstand schien anfangs aussichtslos, und das Buchprojekt drohte erneut zu scheitern. Doch es gab einen Sinneswandel, und daran hat wesentlich und unmittelbar Fritz Hartnagel, der Freund von Sophie Scholl, mitgewirkt. Bei einem Familientreffen Scholl – Hartnagel – Fritz Hartnagel hatte nach dem Krieg Elisabeth Scholl, Sophies und Inges Schwester, geheiratet – bei diesem Treffen untermauerte Hartnagel meine Sicht und bat seine Schwägerin eindringlich, ihre Auffassung zu überdenken.

Jedenfalls erhielt ich nach einigen Wochen Funkstille – innerlich hatte ich mich von dem Buch verabschiedet – einen Anruf von Inge Aicher-Scholl. Sie sagte, sie sei mit dem Manuskript doch einverstanden – bis auf ganz wenige Änderungen, die ich leichten Herzens akzeptieren konnte.

Mit Inge Scholl entstand in den folgenden Jahren fast so etwas wie eine Freundschaft. Wir traten gemeinsam bei Veranstaltungen der Friedensbewegung auf, wann immer sich die Gelegenheit dazu bot. Über den Erfolg meines Buches war sie froh und glücklich, wie sie immer wieder versicherte.

Als der Regisseur Michael Verhoeven sich daran machte, über die Weiße Rose einen Spielfilm zu drehen, fragte Inge Aicher-Scholl mich um Rat, wie sie auf das Ansinnen von Verhoeven reagieren solle.

Ich antwortete, sie solle dem Projekt zustimmen und sich weder um die Dreharbeiten noch um den fertigen Film kümmern. Dem Rat ist sie gefolgt, obwohl es ihr schwer fiel, die Deutungshoheit über die Weiße Rose abzugeben. Sie hat sich den 1982 angelaufenen Film nie angesehen.


Je näher wir uns kennen lernten, desto größer wurde mein Respekt vor ihrer Lebensleistung.  Die Gründung der ersten Volkshochschule in Ulm unmittelbar nach dem Krieg war ihr Werk. Das erste ihrer fünf Kinder war geistig behindert, wurde mit einem Down Syndrom geboren. Ein weiteres Kind verlor sie durch einen Verkehrsunfall. Dann das schwierige Verhältnis zu ihrem Mann Otl Aicher. Schreibend und schweigend hat sie die Krisen ihres Lebens überwunden, und dafür bewundere ich sie bis auf den heutigen Tag.
Neben Inge Aicher-Scholl war mir für das Buch über Sophie Scholl der Kontakt zu Fritz Hartnagel besonders wichtig. Hartnagel hatte sich lange Zeit strikt geweigert, Außenstehenden gegenüber Auskunft über seine Freundschaft zu Sophie zu geben, und zwar mit dem Argument, er sei nicht im Widerstand gewesen und habe daher nicht das Recht, als Zeitzeuge aufzutreten.

Die Verbindung zu Hartnagel hatte Inge Scholl mir vermittelt, und zwar lange bevor es zum Konflikt über die Endfassung des Buches „Das kurze Leben der Sophie Scholl“ gekommen war. Im Wohnzimmer seines Hauses in Stuttgart setzten wir uns an einem runden weißen Tisch zusammen – zu Dritt, Elisabeth, seine Frau, nahm ebenfalls teil. Es wurde ein langes und streckenweise schwieriges Gespräch, das stockend begann und dann doch meine Erwartung ganz und gar erfüllte, weil Fritz Hartnagel mir den Charakter von Sophie erschlossen hat.

Mir wurde klar, mit welcher Konsequenz und Härte – man könnte auch sagen – mit welcher Rücksichtslosigkeit Sophie ihre Auffassung von der Wehrmacht, vom Krieg und auch vom Christentum gegenüber dem Freund vertreten und letztlich auch durchgesetzt hat.

Fritz Hartnagel, 1917 in der Garnisonsstadt Ulm geboren, hatte den Beruf des Soldaten aus innerer Überzeugung gewählt; auf den Beginn des Krieges reagierte er zunächst mit Begeisterung, bis seine Freundin Sophie Scholl ihm in ihren Briefen heftig zusetzte und ihn aufforderte, sich über seine Rolle als Offizier klar zu werden.

Hartnagel stand vor einer schwerwiegenden Entscheidung. Mitten im Krieg sollte er einen radikalen Bruch vollziehen, zumindest innerlich. In unserem Gespräch in Stuttgart schilderte er, wie klar seine Freundin das Kriegsgeschehen durchschaute. Ein Beispiel: Im Winterkrieg 1941/42 habe sie es strikt abgelehnt, für die vor Leningrad und Moskau stehenden deutschen Truppen Mäntel, Decken und Skier zu spenden. Sie habe argumentiert, wenn jetzt deutsche Soldaten erfrieren würden oder russische, so sei das gleichermaßen schlimm. Deutschland müsse den Krieg verlieren. Jede Kleider-Spende trage dazu bei, den Krieg zu verlängern.

Hartnagel berichtete, wie sehr er zunächst schockiert war, bis er schließlich einsah, dass seine Freundin Recht hatte. Wenn man gegen Hitler war, dann durfte er diesen Krieg nicht gewinnen. Nur eine militärische Niederlage konnte ihn beseitigen.

Im Gespräch habe ich Hartnagel auch gefragt, was mit seinen Briefen geschehen sei, also mit seinen Antworten an Sophie. Sophies Briefe lagen ja vor. Beinahe hätte er sich versprochen, als er zögernd erwiderte, die gäb es nicht mehr.

Tatsächlich lagen seine Briefe versteckt in einem Schrank, wo er sie aufbewahrt hatte. Nur ein Teil seiner Korrespondenz war im Januar 1943 beim Abtransport aus dem Kessel von Stalingrad verloren gegangen. Die meisten Briefe sind also erhalten geblieben. Erst nach seinem Tod im Jahre 2002 gab Elisabeth Hartnagel einige der Briefe zur wissenschaftlichen Forschung frei.

Als die „Süddeutsche Zeitung“ eines Tages über eine szenische Lesung mit Texten von Fritz Hartnagel berichtete, habe ich Frau Hartnagel angerufen. Noch bevor ihre vier Söhne die Briefe ihres Vaters lesen konnten, durfte ich sie in Empfang nehmen, Originalbriefe, unfassbar; aus einem Brief fiel ein getrocknetes Blatt, fast nur noch das Gerippe eines Blattes, das Sophie ihrem Freund an die Front geschickt hatte.

Ich durfte die Briefe fotokopieren und für zwei Bücher auswerten: „Fritz Hartnagel – Der Freund von Sophie Scholl“ erschien 2005 und ein Jahr später: „Hoffentlich schreibst du recht bald – Sophie Scholl und Fritz Hartnagel – Eine Freundschaft 1937 – 1943“. Letzteres Buch war die Rekonstruktion ihres Briefwechsels, vor allem in den Jahren des Krieges.

Mir wurde klar, dass Sophie ihren Freund nicht nur von der Gegnerschaft zum NS-Regime und damit auch zum Krieg überzeugte, dass sie ihn darüber hinaus mehrfach um Geld bat, um die Flugblätter der Weißen Rose zu finanzieren. Sie war gewissermaßen die Geldbeschafferin der Widerstandsgruppe, während Hartnagel lediglich ahnte, dass seine Freundin in riskante politische Aktivitäten verwickelt war.

Zurück zum Buch „Das kurze Leben der Sophie Scholl“, das eigentlich keine Biografie geworden ist, sondern eher eine Collage von verschiedenen Versatzstücken, die ich über sie zusammentragen konnte. Die Wirkung, die das Buch auslöste, war in jeder Hinsicht überraschend. Dieser Blick auf eine junge Frau, fast noch ein Mädchen, das klug und entschlossen seinen Weg gegangen ist und die damit verbundenen Konsequenzen bewusst in Kauf genommen hat - das war neu.

Vom Start weg war das Buch ein Bestseller. Es bekam zwei der begehrtesten Jugendbuchpreise: den „Buxtehuder Bullen“ und den Deutschen Jugendliteraturpreis. Aus dem Jugendbuch wurde zugleich ein Erwachsenenbuch. Bis heute hält es sich im Buchhandel.


Anlass unserer heutigen Zusammenkunft ist der Geburtstag von Sophie Scholl. Am 9. Mai 2021 wäre sie 100 Jahre alt geworden. Wegen der Corona-Pandemie musste unser Treffen auf den heutigen 25. Oktober verschoben werden. Aber die Medien konnten berichten und haben berichtet. Dieser 100. Geburtstag von Sophie Scholl war – das lässt sich im Rückblick ohne Übertreibung sagen – ein Medienereignis. Zeitungen und Magazine, Rundfunk und Fernsehen haben ihr viel Platz eingeräumt und dabei ganz unterschiedliche Aspekte behandelt. Sogar auf Instagram war sie vertreten, wie die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ vermerkte.

In der Wochenzeitung „Die Zeit“ hat Maximilian Probst, Enkel von Christoph Probst, Sophie Scholl eine Rezeptionsgeschichte gewidmet, bestens recherchiert und eindrucksvoll beschrieben, wie die Widerstandskämpferin in den vergangenen Jahrzehnten gesehen wurde. (Die Zeit, 29. 4. 2021)

Weniger eindrucksvoll war in meinen Augen das, was einzelne andere Autoren zu Sophie Scholls Geburtstag publiziert haben. Robert Zoske, evangelischer Theologe und ehemaliger Pfarrer in Hamburg, Verfasser einer Biografie über Hans Scholl und dann auch über Sophie, setzte sich in einem langen Artikel unter der Überschrift „Eine deutsche Geschichte“ in der taz, also der Berliner Tageszeitung (6. 5. 2021) mit den Geschwistern Scholl wie auch mit Inge Scholl auseinander.

Zoske nennt Sophie ein „fanatisches Hitlermädchen“. Er behauptet, sie sei zu einer „entrückten Heiligen“ aufgestiegen. In dem Zusammenhang spricht er sich gegen „Legendengirlanden“ und für eine „Entmythisierung“ aus.

Ausgiebig widmet der Theologe sich der angeblichen Homosexualität von Hans Scholl, weswegen dieser vor einem NS-Gericht stand. Ganz abgesehen vom äußerst fragwürdigen Wahrheitsgehalt einer solchen Behauptung – was spielt das heute noch für eine Rolle, wenn es tatsächlich stimmen würde! Und dann arbeitet Zoske sich in seinem Beitrag an Inge Aicher-Scholl ab, die 1998 verstorben war.

Wie anfangs schon erwähnt, hatte Sophies älteste Schwester tatsächlich über einen längeren Zeitraum die Deutungshoheit über die Weiße Rose beansprucht, hatte diesen Anspruch jedoch schon zu Lebzeiten in einem schmerzhaften Prozess aufgegeben und ihre Unterlagen für eine unabhängige historische Forschung dem Münchner Institut für Zeitgeschichte zur Verfügung gestellt.

Inge Scholl hatte 1952 das  Buch „Die Weiße Rose“ herausgebracht, das wegen der Idealisierung ihrer ermordeten Geschwister und der studentischen Widerstandsgruppe nicht nur von Pfarrer Zoske kritisiert wird. Die Kritik ist aus heutiger Sicht nachvollziehbar, weil mit ihrem Buch eine Überhöhung der Münchner Gruppe begann und die Tatsache in den Hintergrund trat, dass auch die Scholl-Kinder in Ulm zunächst in den Sog des Nationalsozialismus geraten waren.

Was mir allerdings in diesem Zusammenhang fehlt, das ist dieses Quäntchen Verständnis für die Bedingungen, unter denen das Buch entstanden war. Das Grauen des Krieges war in den 1950er-Jahren in den Köpfen der Menschen noch allgegenwärtig. Ich habe es in den langen Gesprächen mit Inge Aicher-Scholl mehrfach erlebt, wie die Angst zurückkehrte und sie überwältigte.

In den 1950er-Jahren begann zugleich die Nachkriegsphase, in der die NS-Vergangenheit kräftig unter den Teppich gekehrt wurde und ehemalige Nazis in die Amtsstuben zurückkehrten und dort wie selbstverständlich wieder ihre Plätze einnahmen, als wäre nichts gewesen.

Gegen diese Tendenz schrieb Inge Scholl ihr Buch über die Weiße Rose, ein Buch, das doch auch ein wichtiger Anker für diejenigen war, die bis 1945 unter dem Regime gelitten und ihre Angehörigen verloren hatten.

Auch andere Autorinnen und Autoren erhoben anlässlich des 100. Geburtstages von Sophie Scholl ähnlich wie Pfarrer Zoske den Anspruch, ihren Mythos entzaubern, sie vom Denkmalssockel herunterholen zu wollen. Ich halte ein solches Ansinnen – offen gestanden – für vermessen. Für mich ist das eine lächerliche Pose, die nichts mit dem Widerstand  zu tun hat.

Der Widerstand gegen den Nationalsozialismus war ja keine Massenbewegung. Gerade weil es allem in allem nur wenige waren, die Hitler und seinen Schergen die Stirn boten, plädiere ich für einen behutsamen, gewiss nicht kritiklosen Umgang. Letztlich empfinde ich es allerdings als anmaßend, vom bequemen Sessel der Gegenwart aus apodiktische Urteile über Menschen zu fällen, die unter den Bedingungen einer mörderischen Diktatur ihre Stimme gegen schreiendes Unrecht erhoben haben; oder ihnen Leichtsinn zu unterstellen, wo Verzweiflung zur Antriebsfeder gehörte.


In diesem Zusammenhang möchte ich etwas zu den Quellen sagen, also zu den Briefen, Tagebüchern und Aufzeichnungen jedweder Art. Natürlich hat jede Generation das Recht, sich einen eigenen Zugang zur Geschichte, zu unserer jüngsten Geschichte zu verschaffen. Dabei sollte jedoch klar sein – jede Zeile, die damals geschrieben wurde – ob in einem Brief, im Tagebuch oder in Gestapo-Protokollen – jede dieser Zeilen war nicht für die spätere penible zeithistorische Forschung gedacht, sondern Ausdruck bestimmter oft sehr dramatischer Situationen.

Damit ist natürlich nicht alles falsch oder fragwürdig, was in den Quellen steht. Aber Widersprüche und Ungereimtheiten sollten eigentlich niemanden überraschen, wenn wir heute dieses Material ansehen.  Diese Widersprüche dürfen selbstverständlich benannt werden; sie sollten aber nicht aufgebauscht oder mit dem Gestus einer Neuentdeckung präsentiert werden, als habe man völlig neue Seiten an den Widerstandskämpfern herausgefunden.

Diese Sicht auf die Quellen gilt umso mehr, als es sich bei den Anhängern der Weißen Rose, abgesehen von Prof. Kurt Huber, um junge Menschen handelte, die unter den Bedingungen einer mörderischen Diktatur sowie eines grausamen Krieges ihren Weg suchten, eines Krieges, der globale Ausmaße angenommen hatte und neben Deutschland immer mehr Länder in den Abgrund zog. Deswegen bin ich dafür, diese Quellen mit einer gewissen Demut zu betrachten, die Zeitumstände und andere Faktoren in das eigene Urteil mit einzubeziehen.


Das Buch „Das kurze Leben der Sophie Scholl“ hat mich auf meinen beruflichen Stationen stets begleitet. Es begleitet mich bis heute – zunächst von Hamburg nach Tokyo. In Japan, wo ich von 1981 bis 1986 ARD-Korrespondent für den Fernen Osten war, erschien eine japanische Ausgabe der Lebensbeschreibung, worüber zu meinem Erstaunen die japanische Zeitung „Asahi“, immerhin sieben Millionen Auflage, in großer Aufmachung berichtete. Der Artikel hat mir manche Tür in Japan geöffnet. Ich erwähne das nicht, um mich herauszustellen, sondern um zu unterstreichen, dass die Beschäftigung mit unserer Geschichte durchaus auch ganz praktische Vorteile hat.

Mein Interesse an dieser jüngsten Geschichte war damals längst geweckt, und in Ostasien führte es dazu, dass ich mir die Geschichte des Pazifischen Krieges mit angeeignet habe. Fast alle Schauplätze dieses Krieges habe ich mit eigenen Augen gesehen:

Vom Todesmarsch auf  der Halbinsel Bataan auf den Philippinen über die Inseln in Mikronesien, wo die Kaiserliche Japanische Marine und die US-Streitkräfte sich erbitterte Kämpfe geliefert haben; bis zu den Höhlen von Okinawa in Südjapan, in denen sich nach der Landung amerikanischer Truppen japanische Soldaten verbarrikadierten, um kollektiv Selbstmord zu begehen.

Von Tokyo wechselte ich dann 1986 nach Washington, wo – wiederum ohne mein Zutun – eine englische Übersetzung meines Sophie-Scholl-Buches herauskam und ich die Gründung eines amerikanischen Ablegers der Weiße Rose Stiftung in Washington mit vorbereitet habe, zusammen mit Franz Müller. Franz Müller, das zur Erinnerung an ihn, hatte als Oberschüler in Ulm Flugblätter der Weißen Rose verteilt und war zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt worden. Durch die Weiße Rose Stiftung in den USA habe ich einige amerikanische Politiker kennengelernt, State Senators, die mir geholfen haben, als Korrespondent in Amerika Fuß zu fassen.


Und heute? Wofür steht Sophie Scholl heute, wofür steht die Widerstandsgruppe Die Weiße Rose heute? Sie stand und steht bis heute für das andere Deutschland, das es auch gegeben hat, auch wenn es viel zu schwach gewesen ist, um der NS-Diktatur und dem globalen Krieg ein Ende zu bereiten.

Zunächst noch einmal zu Sophie, bevor ich etwas näher auf die Gegenwart eingehe: Wenn Hans Scholl der Kopf der studentischen Widerstandsgruppe war, dann lässt sich meines Erachtens von Sophie feststellen: Sie war Motor und Herz der Weißen Rose und, was den eigentlichen Widerstand angeht, vermutlich die entschlossenste und radikalste Widerstandskämpferin unter den Studenten. Das belegen zum Beispiel die Äußerungen ihres Freundes Fritz Hartnagel, des früheren Wehrmachtsoffiziers und späteren Richters in Stuttgart.

Für eine tagespolitische Vereinnahmung, wie im diesjährigen Bundestagswahlkampf geschehen, sollten weder Sophie noch die anderen Mitglieder der Weißen Rose herhalten. Wen oder was würde Sophie wählen?! Allein die Frage ist absurd, erst recht, wenn Sophie von sogenannten Querdenkern oder einer rechtsextremen Gruppe instrumentalisiert wird.
Allerdings, bei den großen Problemen und Herausforderungen, vor denen wir heute stehen, kann Sophie Scholl mit dem, was sie gesagt, geschrieben und getan hat, sehr wohl Orientierung geben und Vorbild für mutiges Handeln sein.

Das gilt für drei Bereiche, die ich kurz benennen will:

Einmal geht es um die Bedrohung unseres Planeten durch den Klimawandel. Sophies Liebe zur Natur, die sich in ihren Aufzeichnungen vielfach niederschlägt, enthält eine brandaktuelle Botschaft: Wir dürfen unsere Lebensgrundlagen nicht weiter zerstören. Die Güter dieser Erde sind endlich. Sie stehen allen Menschen zu, nicht nur einer Minderheit. Diese Minderheit, das sind wir in den hochentwickelten Industriestaaten.

Die zweite Herausforderung betrifft unsere Freiheit, unsere Demokratie, die nach meiner Wahrnehmung in die Defensive geraten ist. Die großen Institutionen - Kirchen, Gewerkschaften und Parteien – lösen sich aus ihren bisherigen Milieus, sind müde geworden, erreichen die Menschen zum Teil nicht mehr.

Der Ausgang der Bundestagswahl mit der Perspektive eines Regierungswechsels überdeckt Resultate in zwei mitteldeutschen Ländern, in Sachsen und Thüringen, wo eine in weiten Teilen rechtsextreme Partei die Mehrheit errungen hat. Wo bleibt die Aufschrei über diese Ungeheuerlichkeit?

Sophie Scholl hat ihr Eintreten für die Freiheit mit dem Leben bezahlt. Ihr Schicksal ist nicht nur eine zeitlose Tragödie, sondern zugleich eine dringende Mahnung an uns, diese unsere Freiheit nicht aufs Spiel zu setzen, sondern für sie einzutreten, wo immer es geboten ist.

Drittens:  Der Krieg. Krieg zerstört alles, was menschliches Leben ausmacht. Ich selber bin im Kriegsjahr 1940 geboren, habe noch eine Ahnung davon mitbekommen, was Krieg bedeutet -  durch den Tod meines ältesten Bruders Heinrich, der bei Kriegsende am Eingang eines Bunkers unweit meines Heimatdorfes Rhede-Ems im nördlichen Emsland von einem Granatsplitter an der Halsschlagader getroffen wurde und in den Armen meines von der Wehrmacht desertierten Vaters verblutete. Er war elf Jahre alt.
Die konsequente Gegnerschaft zum Krieg, die Sophie und Hans Scholl und die anderen Mitglieder der Weißen Rose verfolgt haben - dieses Beispiel verlangt von uns, Wege zur Wahrung des Friedens zu suchen, nicht der Aufrüstung und den gängigen Feindbildern das Wort zu reden, sondern dem Ausgleich und der Verständigung. Wie sagte Gustav Heinemann so kurz und bündig:

„Nicht der Krieg ist der Ernstfall, sondern der Friede!“

Ich komme zurück auf den Vormarsch der Rechtsextremisten in unserem Land. Es fehlt nicht an öffentlichen Bekundungen der historischen Verantwortung Deutschlands für den Holocaust und den Zweiten Weltkrieg mit seinen Vernichtungsfeldzügen gegen Polen, Russland, die Ukraine, auch Belarus. Bundespräsident Frank Walter Steinmeier ist unermüdlich unterwegs, um dies zu betonen. Und Bundeskanzlerin Angela Merkel absolvierte gerade ihren Abschiedsbesuch in Israel in gleicher Mission.

In Deutschland fehlt es auch nicht an Stiftungen, Gedenkstätten, Mahnmalen und Institutionen, die sich der jüngsten Geschichte widmen, wobei wir es sogar mit zwei Diktaturen zu tun haben, der NS-Diktatur und der SED-Diktatur, die ich nicht gleichsetze, die jedoch beide unsere Aufmerksamkeit und Anstrengung verdienen. Und es fehlt auch nicht an vielfältigen staatlichen Einrichtungen, deren Aufgabe es ist, den Feinden der Demokratie entschlossen zu begegnen.

Und trotz alledem – trotz der Reden, der Einrichtungen der Gedenkkultur und der staatlichen Institutionen zum Schutz der Demokratie - scheint sich der Vormarsch der Rechtsextremisten zu verfestigen. Sie sind da und ganz offenkundig entschlossen zu bleiben.

Weil das so ist, müssen wir alle uns fragen, woran es liegt, dass ausgerechnet Rechtsextremisten und Neonazis nicht nur in großer Zahl in Kommunal- Landes- und Bundesparlamente gewählt werden, sondern regelmäßig öffentliche Plätze beherrschen mit ihren fremdenfeindlichen Parolen, ihrer Verächtlichmachung der parlamentarischen Demokratie, ihrer Aufstachelung zur Gewalt. Worte haben sich längst in Gewalttaten verwandelt – in Attentate, in Mordserien.

Eine Antwort auf die Frage nach den Ursachen und Versäumnissen, die diesen Vormarsch von Rechts ermöglicht haben, kann ich nicht geben, jedenfalls keine schlüssige und griffige Antwort. Wahrscheinlich kommen dafür viele Gründe infrage. Was ich jedoch weiß, ist die Einsicht, dass sehr viel mehr als bisher geschehen muss, um dieser bedrohlichen Entwicklung entgegenzuwirken.

Manches von dem, was bislang unter dem Oberbegriff „Erinnerungskultur“ geschehen ist, gehört auf den Prüfstand. Einiges ist zum bloßen Ritual, zum Lippenbekenntnis erstarrt, ohne mit Konsequenzen zum Handeln gekoppelt zu werden. Jugendliche, Schülerinnen und Schüler sollten meines Erachtens deutlich stärker als bisher in konkrete Projektarbeit eingezogen werden.

Im Bereich der Gesellschaftspolitik gibt es eine Reihe von Sollbruchstellen, die dringend behoben werden müssen, etwa im Verhältnis zwischen West- und Ostmitteldeutschland. Dreißig Jahre nach der Wiederherstellung der deutschen Einheit kann man niemandem mehr erklären, weshalb es bei Löhnen, Gehältern und Renten immer noch diese Kluft gibt: Gleiche Arbeit wird ungleich bezahlt und verstärkt das vielfach noch vorhandene Gefühl der Benachteiligung. In Westdeutschland sehe ich ein hohes Maß an Gleichgültigkeit und Ignoranz gegenüber der gesellschaftpolitischen Entwicklung im Osten.

Und ich weiß, worüber ich spreche: zwei Jahre Recherche zum Treuhandbuch, seit einigen Wochen auf Lesereise, bisher in Chemnitz, Halle und Greifswald.
Ein zweites Gefahrenmoment für den gesellschaftlichen Zusammenhalt ist die wachsende Ungleichheit zwischen Reich und Arm in Deutschland. Beispiel Bremen – Oberneuland, Bauentwicklungs-Gesellschaft: Schild, Neubaugebiet, die ersten melden sich, möchten investieren. Wenn die Rede auf Kredite und Finanzierung kommt, heißt es: Kein Bedarf an Krediten, das geht alles in bar.

Offenkundig ist bei einem Teil der Bevölkerung so viel Geld im Umlauf, wovon die meisten von uns vermutlich keine Vorstellung haben.  Großunternehmen wie Mercedes machen Milliardengewinne und kassieren gleichzeitig gewaltige Summen an staatlichem Kurzarbeitergeld. Und was die zu erwartende neue Regierung angeht, so wurden bereits im Vorfeld der laufenden Koalitionsverhandlungen Steuererhöhungen und die im Wahlkampf diskutierte Vermögenssteuer auf dringenden Wunsch einer Elfkommafünf-Prozent-Partei kassiert. Damit bleibt die galoppierende Ungleichheit weiter zementiert.

Was hat das alles mit Sophie Scholl, mit der Weißen Rose und dem Widerstand gegen die NS-Diktatur zu tun?  Ich denke – einiges – mit einem großen Unterschied. Während die Anhänger der Weißen Rose gegen eine übermächtige, gewalttätige und verbrecherische Diktatur kämpften, haben wir heute alle Instrumente in der Hand, den Ansturm von Rechts zurückzudrängen und unsere Freiheit zu verteidigen. Diese Instrumente zu nutzen, das sind wir Sophie Scholl und den anderen schuldig.

Bevor ich schließe, möchte ich die Weiße Rose Stiftung von meinen kritischen Bemerkungen zur Erinnerungskultur ausdrücklich ausnehmen – nicht weil ich hier stehe, sondern weil dies Fakt ist: Sie, Frau Dr. Kronawitter, und ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter erreichen die Jugendlichen mit ihren Ausstellungen und anderen Aktivitäten. Die Weiße Rose Stiftung ist ein Beispiel, das weit über unser Land hinaus leuchtet.

Bevor ich mit einem Zitat von Fritz Stern schließe, möchte ich meinem Freund Peter von Rüden danken, der mich nach München geholt hat. Ich bin gern gekommen. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit und rufe einen Satz von Fritz Stern in die Erinnerung zurück, den ich mir gemerkt habe. Stern, Historiker, Mahner und Versöhner, der 1938 mit seinen Eltern rechtzeitig vor den Nazis geflohen und in die USA emigriert war und 2016 starb, hat gesagt, ich zitiere:

„Die Zerbrechlichkeit der Freiheit ist die einfachste und tiefste Lehre aus meinem Leben und meiner Arbeit.“





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